Ein Sokratisches Gespräch steht unter einem vorgegebenen Thema, meist in Frageform formuliert. ‚Was ist Freundschaft?‘ zum Beispiel. Das Gespräch beginnt damit, dass wir Erfahrungsbeispiele sammeln. Selbsterlebte Geschichten, an die wir uns spontan erinnern und bei denen wir sagen: Ja, das war für mich ein Beispiel für Freundschaft! Diese Beispielgeschichten werden dann kurz erzählt. Das geht in der Gruppe hin und her, ganz wie die TeilnehmerInnen einen Einfall haben. Es kann zu diesen Erzählungen auch (kurz) nachgefragt und geantwortet werden, falls eine relevate Einzelheit einer Geschichte für die anderen noch unklar war.
Die Moderatorin notiert die Geschichten in Kurzform (‚Hilfe am Berg‘, ‚Geburtstagsgeschenk‘, ‚Lawinenschaufel‘ o.ä.) am Flipchart. Dies dient nur als Gedächtnisstütze für die folgende Phase der Auswahldiskussion. Dabei wird ein Beispiel ausgewählt, mit dem dann für die restliche Zeit des Gesprächs gearbeitet wird. Diese Entscheidung wird von der Gruppe getroffen, es ist aber hilfreich, wenn die Gesprächsleitung an dieser Stelle bewährte Kriterien für die Auswahl vorgibt, z.B. in Form einer kurzen Liste am Flipchart, mit entsprechenden Erläuterungen.
Im Folgenden werden die Kriterien etwas detaillierter dargestellt:
- Selbst erlebt. Ein Stück aus der persönlichen Erfahrung, über die man als Beteiligte(r) wirklich Auskunft geben kann. Nicht: ‚Meinem Freund ist es einmal passiert, dass …‘
- Nicht hypothetisch und nicht generalisiert. Nicht so etwas wie: ‚Bergführer können oft in die Situation kommen, dass …‘
- Nachvollziehbar. Eine persönliche Erfahrung, die die anderen Teilnehmer aus ihrer eigenen Lebenserfahrung auch nachvollziehen und sich einfühlen können. Eine dramatische Expeditionsanekdote über Halluzinationen im Zelt auf 7000 Höhenmetern am Everest ist eine gute Geschichte für den Hüttenabend, aber als Erfahrung nicht jedem zugänglich. Ähnliches gilt für jede Erzählung, die nur mit Expertenwissen wirklich verstanden werden kann.
- Einfach. Statt komplex in Handlung, Zahl der beteiligten Personen, Gefühlsleben etc. Auch scheinbar simple Beispiele erweisen sich bei der philosophischen Analyse als tiefgründig und absolut lohnenswert.
- Abgrenzbar in Raum und Zeit. Kein ‚Immer wieder erlebe ich es, dass …‘. Bei Situationen, die immer wieder auftreten, sollte eine spezifische Situation aus dieser Sequenz als Beispiel gewählt, präzise erinnert und beschrieben werden. Kann der Beispielgeber das leisten?
- Abgeschlossen im Sinne von: Der Beispielgeber steckt nicht noch ‚mitten drin‘ (die Geschichte ist noch im Fluss, Entscheidungen sind noch nicht getroffen, Konsequenzen noch nicht zu übersehen etc.). Das Sokratische Gespräch ist kein Gruppencoaching, um den Beispielgeber bei offenen Themen zu beraten.
- Ob eine selbsterlebte Geschichte jemals auch ‚emotional abgeschlossen‚ sein kann ist fraglich. Es ist sicher hilfreich für das Gespräch, wenn der Beispielgeber zum Erlebten eine gewisse zeitliche und emotionale Distanz hat, soweit möglich ‚damit fertig‘ ist. Das Sokratische Gespräch ist keine Therapiesitzung. Zu einem Gesprächsthema wie ‚Wann ist es Zeit loszulassen?‘ vom eigenen noch laufenden Scheidungsprozess incl. Streit um die Kinder zu erzählen ist keine gute Idee.
- Relevant für die Fragestellung. Es mag trivial klingen, aber manchmal lohnt sich die Testfrage: Ist das Beispiel wirklich ein Beispiel für die Leitfrage? Oder vielleicht eine interessante Geschichte, aber nicht optimal geeignet, die Leitfrage des Gesprächs zu untersuchen?
- Erzählbar. Nicht zuletzt muss sich jede und jeder fragen: ‚Kann ich das wirklich offen und mit allen nötigen Details erzählen?‘. Gefühle zu schildern ist ok und oft relevant für eine Geschichte, stellenweise Rührung nicht verboten. Die Gesprächsgruppe ist ein Raum der Vertraulichkeit und taktvollen Umgangs. Der Beispielgeber sollte sich aber im klaren darüber sein, dass seine (dann evtl. als das Arbeitsbeispiel ausgewählte) Geschichte in einer zweiten Runde nochmals und detaillierter erzählt werden wird, dass Nachfragen gestellt werden, dass vielleicht (peinliche? steuerstrafrechtlich relevante?) Einzelheiten, Zusammenhänge, Gefühle an die Oberfläche kommen, die ihn/sie in der exponierten Rolle des Beispielgebers überfordern.
Ich habe es als Teilnehmer selbst schon erlebt, dass ich in der Phase der Beispielsammlung munter eine nette Geschichte erzählt habe, beim zweiten Blick dann aber das deutliche Gefühl hatte, dass an dieser Story doch wesentlich mehr Biographie und persönliche Problemhistorie hängt als zunächst gedacht. Hoppla. Ich habe der Moderatorin und der Gruppe dann mitgeteilt, dass ich meinen Vorschlag (aus den genannten Gründen) zurückziehe. Gut so!
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