Warum nicht einfach eine Definition geben?

Ein Sokratisches Gespräch steht oft unter einer Leitfrage, die nach der Bedeutung eines Begriffs fragt. „Was bedeutet …?“ oder „Was ist …?“. „Was bedeutet Vertrauen?“, „Was ist Professionalität?“, „Was ist Kunst?“. Warum also beginnen wir das Gespräch nicht damit, dass jeder Teilnehmer eine Definition raushaut? Und darüber verständigen wir uns dann; reden über die Unterschiede dieser Definitionen, kommen vielleicht zu Übereinstimmungen.

Definitionen für unsere Begriffe (in dem unscharfen Sinn einer ‚kurzen prägnanten Erläuterung‘) haben wir in der Regel nicht parat. Und selbst wenn – wäre darin wirklich alles erfasst, was ich als individuelle Person mir zu einem Begriff wie ‚Vertrauen‘ so denke, was für mich (ganz persönlich) alles dazugehört, dazugedacht werden muss?

Eine solche Definition muss ich mir in der Regel erst ausdenken. Dabei kann ich mich selbst auch täuschen: Erfasst mein Definitionsversuch denn alles, was ich mir bei dem fraglichen Begriff tatsächlich denke, vielleicht nur unausgesprochen und halbbewusst im Hintergrund? Wie ich den Begriff in Abgrenzung zu Nachbarbegriffen verwende, welche Überzeugungen und Gründe für mich mit anklingen, wie er in das Netzwerk meines ganz persönlichen Sprachgebrauchs und meiner Lebenserfahrungen eingewoben ist?

Interessant ist es, das Gespräch auf eine ganz andere Weise zu beginnen als mit Definitionsversuchen. Nämlich so: Die Teilnehmer sammeln am Anfang Erfahrungsbeispiele zum Thema – kurze konkrete selbsterlebte Situationen, die ihnen zum untersuchten Begriff spontan einfallen. Wann habe ich einmal in einer ganz konkreten Situation ‚Vertrauen‘ erlebt? Welche konkrete, gern einfache und ‚alltägliche‘ Szene fällt mir ein, die ich mit ‚Professionalität‘ beschreiben würde? Nichts Ausgedachtes, sondern wirklich erlebt.

Bei einer Definition kann ich mich ‚täuschen‘; darüber, ob mein Definitionsversuch meinen tatsächlichen Begriffsgebrauch angemessen erfasst. Oder ist meine gegebene Definition gar nur nachgesprochen, irgendwo gelesen und auswendig gelernt, eine (für mich) leere Formel, auch wenn sie gebildet klingen mag und so ähnlich sogar im Lexikon steht?

Bei einem erinnerten Erfahrungsbeispiel kann ich mich (in gewisser Hinsicht) nicht täuschen: Es ist mir zu unserem Leitbegriff tatsächlich eingefallen! Ich sage tatsächlich und ernsthaft: „Das war für mich ein Beispiel für Vertrauen“. Und das bedeutet: Ich gebrauche den Begriff  tatsächlich so. Ein solches Beispiel betrachten wir dann.

Es kann sein, dass man einmal nicht in der Lage ist, für einen Begriff spontan eine Definition zu geben. Aber ein Beispiel fällt einem ein. Ist das nicht hochinteressant?


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